Physiotherapeutische Behandlung der Wirbelsäuleninstabilität

Rückenschmerzen

Allgemeine medizinische Informationen zur Ursache, Diagnose und Therapie Rückenschmerzen erhalten Sie unter Rückenschmerzen.

Einleitung

Rückenschmerzen haben sich zur Volkskrankheit NR.1 und zu einem erheblichen Kostenverursacher für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft in Deutschland entwickelt. Die Gesamtkosten für die Versorgung chronischer Rückenschmerzen betragen ca. 20 Milliarden Euro/ Jahr, wobei der Hauptteil der Kosten durch Krankschreibungen verursacht wird.
Die Kosten pro Patient liegen im Schnitt bei 1200 Euro, davon entfallen auf die direkten (medizinische) Kosten 54%, die indirekten Kosten (bedingt durch Krankschreibungen und Produktionsausfälle) machen 46% der Gesamtsumme aus. Rückenschmerzen verursachen ca. 15 % aller Krankschreibungen / Jahr und sind der Grund für 18% aller Frühberentungen.

Über Rückenschmerzen (unabhängig von Stärke und Dauer) innerhalb der letzten 12 Monate berichten ca. 60% aller erwachsenen Männer und Frauen, chronische Rückenschmerzen (darunter versteht man Rückenbeschwerden, die mindestens 3 Monate und länger anhalten und nahezu täglich auftreten.) innerhalb eines Jahres geben ca. 20% aller Erwachsenen an, bezogen auf die gesamte Lebenszeit sind das ca.30% aller Erwachsenen. Frauen sind in Bezug auf Häufigkeit und Intensität insgesamt stärker betroffen.
Während früher Rückenschmerzen eher ein Problem von älteren Menschen war, werden die Betroffenen heute immer jünger und die Notwendigkeit, therapeutische Möglichkeiten an der Hand zu haben, um Rezidive (Wiederauftreten der Symptome) und Chronifizierung zu vermeiden wird immer größer.

Das Hauptziel in der Behandlung von Rückenschmerzen ist also nicht ausschließlich die vorrübergehende Symptomverbesserung, sondern auf Grund der Neigung zu Rezidiven und Chronifizierung der langfristige Therapieerfolg und die Rezidivvermeidung.

Es gibt vielfältige Ursachen für die Entstehung von Rückenschmerzen, wobei trotz modernster Diagnostikmöglichkeiten nicht immer eine eindeutige Ursache festzulegen ist. Für die Entstehung von Rückenschmerzen und die Neigung zur Chronifizierung sind außer den körperlichen Faktoren sehr viele Begleitumstände wie u.a. Arbeitsbelastung, soziale Schicht, kognitive Bewertung von Schmerz und depressive Verstimmung bedeutsam,

Im folgenden Thema möchte ich auf die Wirbelsäuleninstabilität, verursacht durch eine Schwäche des lokalen (tiefen) Muskelsystems als mögliche Ursache für hohe Rezidivraten eingehen.

Abbildung Wirbelsäule

  1. Erster Halswirbel (Träger) -
    Atlas
  2. Zweiter Halswirbel (Dreher) -
    Axis
  3. Siebenter Halswirbel -
    Vertebra prominens
  4. Erster Brustwirbel -
    Vertebra thoracica I
  5. Zwölfter Brustwirbel -
    Vertebra thoracica XII
  6. Erster Lendenwirbel -
    Vertebra lumbalis I
  7. Fünfter Lendenwirbel -
    Vertebra lumbalis V
  8. Lenden-Kreuzband-Knick -
    Promontorium
  9. Kreuzbein - Os sacrum
  10. Steißbein - Os coccygis
    I - Halswirbelsäule (rot)
    II - Brustwirbelsäule (grün)
    III - Lendenwirbelsäule (blau)

Eine Übersicht aller Abbildungen von Dr-Gumpert finden Sie unter: medizinische Abbildungen

Stabilisierendes System der Wirbelsäule

Das stabilisierende System der Wirbelsäule besteht aus drei Anteilen, die nur bei voller Funktion und in Zusammenarbeit eine optimale Bewegungskontrolle der Wirbelsäule in Haltung und bei Bewegung gewährleisten können.

1. und 2. Anteil: aktives Bewegungssystem = Muskulatur, bestehend aus dem globalen und lokalen Muskelsystem.

  1. Das globale Muskelsystem besteht aus langen, mehr oberflächig liegenden Muskeln, die eine primär bewegende Funktion haben. Sie sind in der Lage, Bewegungen der Wirbelsäule und der Extremitätengelenke schnell und mit hoher Kraft auszuführen und sind für die Kontrolle des Gleichgewichts mitverantwortlich. Die Muskelfasern der globalen Muskulatur sind für ihre Arbeit auf intensive Durchblutung angewiesen und ermüden von daher schnell bei länger andauernder Haltearbeit.
  2. Das lokale Muskelsystem besteht aus kleinen, tief und gelenknah an der Wirbelsäule liegenden Muskeln, die überwiegend eine stabilisierende Funktion haben. Sie sind verantwortlich für unsere aufrechte Haltung und arbeiten mit niedrigem Kraftaufwand, da sie den ganzen Tag im Dauereinsatz sind. Die lokalen Muskeln sorgen dafür, dass auch bei intensiver Bewegung, Sturz oder Stoß die kleinen Wirbelgelenke immer in einer bestimmten Stellung bleiben, sie verhindern auf diese Weise Funktionsstörungen (schmerzhafte Bewegungseinschränkungen, “Blockierungen“) der Wirbelsäule und entlasten das passive Stützsystem des Rückens.
  3. Anteil: passives Stützsystem, bestehend aus den knöchernen Bestandteilen der Wirbelsäule, Kapsel und Bandapparat, den Bandscheiben, und dem zentralen (der im Schädel und im Wirbelkanal befindliche Teil des Nervensystems) und peripheren (besteht aus den Hirnnerven und Rückenmarksnerven) Nervensystem.

Weitere Informationen finden Sie hier: Die Bänder der Wirbelsäule

Komplizierte Kontroll- und Steuerungssysteme unseres Nervensystems sorgen dafür, dass die beiden Muskelsysteme bei Haltung und Bewegung zum richtigen Zeitpunkt und in richtiger Reihenfolge aktiviert werden. Somit ist unser Körper in der Lage, gleichzeitig bei optimaler Ausführung von Bewegungsabläufen nicht die Stabilität zu verlieren, Bewegungsausführung kann vorher geplant und nach Ablauf der Bewegung zur weiteren Perfektionierung angepasst werden.

Stabilität = Bewegungskontrolle

Nur bei optimaler Funktion und Koordination (Zusammenarbeit) der bewegenden und haltendenden Muskulatur, der Steuerung über das Nervensystem und den intakten passiven Strukturen ist schmerzfreie Bewegung möglich. In vielen Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass Rückenschmerzpatienten mit schlechter motorischer Kontrolle (Koordination aller beteiligter Faktoren) eine hohe Rückfallquote aufweisen.

Jedes heftige akute Schmerzbild des Rückens, gleich welcher Ursache, ein vorhandener Bandscheibenvorfall oder ein Wirbelgleiten führen immer zu einer Abschwächung des tiefen Muskelsystems.

Gestört ist dieses System ebenfalls immer nach Ablauf einer Schwangerschaft. Von daher empfiehlt sich das Trainingsprogramm für die Lokale Muskulatur auf jeden Fall für Frauen nach Entbindung, auch unabhängig von bestehenden Rückenschmerzen.

Wirbelsäuleninstabilität

Symptome bei Instabilität:

  • der Patient beschreibt plötzlich einschießende Schmerzen in der Lenden- oder Halswirbelsäule bei Bewegung z.B. beim Bücken oder schnellem Umdrehen des Kopfes
  • das Gefühl, der Rücken bricht durch oder der Kopf wird nicht vom Hals getragen
  • Schmerzen und Steifheit nach dem Aufstehen aus der Bauchlage oder nach längerem Sitzen im Auto und Schreibtischtätigkeiten
  • Schmerzen und Steifheit morgens nach dem Aufstehen
  • Schmerzen nach anstrengenden Tätigkeiten wie längerem Tragen von Gewichten (z, B. beim Einkauf)
  • häufig wiederkehrende (rezidivierende) Schmerzattacken

Diese Symptome können allerdings auch durch andere Ursachen auftreten. Sie geben dem Arzt oder Physiotherapeuten aber mögliche Hinweise, die weitere Diagnostik in bestimmte Bahnen zu lenken.

Klinische Untersuchung

  • beim Hochkommen aus gebückter Stellung ist der Patient nicht in der Lage, mit gestreckten Beinen wieder hochzukommen, sondern muss die Knie beugen und sich mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützen
  • der Therapeut tastet die tiefe Muskulatur direkt an der Wirbelsäule in Bauchlage oder den tiefen Bauchmuskel in Rückenlage und prüft die Anspannungsfähigkeit
  • verringerte Beugungsfähigkeit in der Lendenwirbelsäule und kompensatorisch vermehrte Bewegungsfähigkeit in der unteren Brustwirbelsäule
  • beim Test des Bewegungsspiels einzelner Wirbel fühlt der Patient den für ihn typischen Schmerz und der Therapeut (ev. auch der Patient) zu viel an Bewegungsspielraum im Vergleich zu anderen Wirbeln;
  • wenn der Patient bei dem Test seine Rückenmuskeln anspannt, lässt der Schmerz nach
  • andere mögliche Ursachen für die Rückenschmerzen müssen ausgeschlossen werden, da häufig mechanische Dysfunktionen oder strukturelle Veränderungen an der Wirbelsäule (z.B. Bandscheibenvorfall, Wirbelgleiten) parallel auftreten
  • im MRT (bildgebendes Verfahren) ist ein verminderter Muskelquerschnitt der lokalen Muskulatur sichtbar, dieser bleibt häufig auch nach Abklingen der akuten Schmerzsituation
  • bei der Elektromyographie können verminderte Aktivitäten der tiefen Muskulatur gemessen werden
  • bei Operationen an der offenen Wirbelsäule ( z.B. Bandscheibenoperation) im Bereich der Lenden- oder Halswirbelsäule kann der Operateur den verminderten Muskelquerschnitt der tiefen Muskulatur sehen

Therapieziele

Voraussetzung für den Beginn des Trainings ist die Beseitigung begleitender möglicher Schmerzursachen, wie z.B. mechanische Dysfunktionen.

Nahziele

  • Erlernen des Aktivierens der tiefen Muskulatur über Wahrnehmungsschulung
  • Verbesserung der Kraftausdauer der tiefen Muskulatur
  • Integration beider (globales und lokales) Muskelsysteme, Aktivität ohne Verlust von Stabilität
  • Automatisches Übertragen der korrekten Muskelaktivität in Alltagssituationen

Fernziele

  • Verbesserung der Wirbelsäulenstabilität und Reduktion der durch Instabilität verursachten Rücken-Nacken- oder Kopfschmerzen in Bezug auf Schmerzdauer und Intensität
  • Verringerung der Rückfallquoten und Verhinderung von Chronifizierung

Bis zum Erreichen der beiden letzten Therapieziele ist es für den Patienten ein beschwerlicher Weg, der absolute Compliance ( Motivation und Mitarbeit) voraussetzt. 3 Monate intensives tägliches Üben sind erforderlich, um eine verbesserte Grundstabilität und anhaltende Schmerzreduktion zu erreichen, danach können in den meisten Fällen die Übungseinheiten reduziert werden. Allerdings können viele Einzelübungen nach anfänglichem Erlernen in Rückenlage, Seitlage oder Vierfüßlerstand in aufrechter Körperhaltung wie Sitz oder Stand durchgeführt werden. Von daher können die Übungseinheiten sehr gut in den Alltag integriert werden.
Um dem Patienten das Verbessern der motorischen Kontrolle zu erleichtern, werden komplexe Übungen in Einzelschritten vermittelt und können nach dem Erlernen einzelner Anspannungen (kann bis zu 4-6 Wochen dauern) zu 2 kombinierten Übungen (Halsbeuger-/Strecker, Schultern/ Bauch, Rücken, Beckenboden) oder zu einer Gesamtkörperspannung zusammengeführt werden, was die tägliche Übungszeit deutlich reduziert.
Wenn der Patient in der Lage ist, die Grundkörperspannung korrekt zu halten, werden zusätzliche Bewegungssequenzen ( Aktivität der globalen Bewegungsmuskulatur) ergänzt.
Im letzten Schritt werden die erlernten Spannungs- und Bewegungsabläufe zwecks Automatisierung in den Alltag integriert. Dabei werden bevorzugt Alltagssituationen geschult, die dem Patienten Schwierigkeiten bereiten.

Wichtiger Hinweis

Das Training darf den typischen Schmerz des Patienten nicht hervorrufen.

Seitens des Physiotherapeuten wird eine gute Methodik und die Fähigkeit, Wahrnehmungsübungen anschaulich zu vermitteln, vorausgesetzt. Vor allem zu Beginn des Trainings muss der Therapeut viel Unterstützung über einfach umsetzbare Übungsanweisungen und taktile Hilfe und Rückmeldung über seine Hände geben.

Als zusätzliche Kontrolle und Rückmeldung für den Patienten kann der Physiotherapeut ein Biofeedbackgerät, einen Druckmesser für Muskelanspannung oder ein Ultraschallgerät benutzen.

Weitere Informationen

Hier erhalten Sie weitere hilfreiche Informationen zu diesem Thema:

Autor: Dr. Nicolas Gumpert Veröffentlicht: 12.03.2008 - Letzte Änderung: 30.03.2024