Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Synonyme

Medizinisch: Cheilo-Gnatho-Palatoschisis,   Englisch: cheilognathouranoschisis

Einleitung

Im europäischen Raum wird statistisch unter 500 Neugeborenen 1 Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (Cheilo-Gnatho-Palatoschisis) geboren. Dies ist eine relativ hohe Anzahl, weshalb die Spaltbildung zu den häufigsten angeborenen Gesichtsmissbildungen zählt.

Sie entstehen während der Übergangszeit vom zweiten zum dritten Schwangerschaftsmonat. Allerdings nicht gleichzeitig, sondern zunächst kommt es zur Bildung der Lippen-Kieferspalte und später zur Gaumenspalte.

Während sich beide Gesichtshälften getrennt voneinander entwickeln und sich normalerweise zu einer bestimmten Zeit vereinigen, ist dies bei der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte nicht der Fall.
Die Spaltbildung kann unterschiedliche Ausmaße annehmen. So kann z.B. nur die Lippe einen Spalt aufweisen, der sich bis zur Nasenöffnung erstreckt, oder eine Erweiterung durch die Zahnreihe des Oberkiefers bis zur vollständigen Spaltbildung einschließlich des harten und weichen Gaumens bestehen. Manchmal ist auch nur ein gespaltenes Gaumenzäpchen der einzige Hinweis auf eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte.

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten werden manchmal schon im Ultraschall, aber spätestens bei der Geburt, erkannt. Die Spalten können vollständig oder unvollständig, einseitig oder beidseitig auftreten. Lippen, Kiefer und Gaumen können zusammen oder einzeln betroffen sein. Dabei ist die linke Seite öfter in Mitleidenschaft gezogen, als die Rechte.

Früher wurden Spaltbildungen auch als „Hasenscharte“ oder "Wolfsrachen" bezeichnet. Da dies aber keine medizinschen Ausdrücke sind und von Betroffenen als beleidigend empfunden werden können, sollte man bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte bleiben. 

Ursachen

Die Ursache der Lippe-Kiefer-Gaumen-Spalte liegt in einer Fehlbildung in der 4.-10. Embryonalwoche. Zwischen der 5.-7. Woche entstehen Lippen- und Kieferspalten, ab der 8. Woche die Gaumenspalten. Die Gewebe wachsen in dieser Zeit aufgrund äußerer und innerer Einflüsse nicht zusammen.

Man spricht dann oft von einer multifaktoriellen Entstehungsgeschichte, da zumeist mehrere Faktoren gleichzeitig und miteinander wirken.

In ca. 70% der Fälle tritt die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte isoliert, also allein, als einziger Defekt auf. In den restlichen 30% hat das Neugeborene noch eine weitere Fehlbildung. Oftmals geht eine Spalte mit verschiedenen Syndromen einher, wie beispielsweise der Trisomie 21, auch Down-Syndrom, genannt. Liegen die Ursache der Erkankung in der Genetik und Vererbung, so spricht man von inneren Faktoren. Wenn in der Familie bereits Spalten aufgetreten sind, ist das Risiko für eine weitere Spaltbildung bei weiterem Nachwuchs etwas erhöht. Eine Beratung beim zuständigen Arzt hilft hier oft weiter.

Bei den äußeren Faktoren handelt es sich um Einflüsse, die von außen auf die Schwangere einwirken. Raucht die Mutter während der Schwangerschaft, so kann dies das Baby auf verschiedene Art und Weise schädigen. Es spielt dabei keine Rolle, ob aktiv oder passiv geraucht wird. Die toxischen Stoffe, die in den Zigaretten enthalten sind, wirken wie ein Gift auf den Körper des Fötus. Gleiches gilt für Alkoholgenuss der Mutter während dieser Zeit.

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Auch ionisierende Strahlung, also das Anfertigen von Röntgenbildern, kann Ursprung für die Ausbildung einer Spalte sein. Die Röntgenstrahlen können in der DNA des Kindes einen Schaden anrichten, wodurch sich Gewebe falsch entwickeln kann. Damit so etwas nicht passiert, ist es immer sehr wichtig, den behandelnden Arzt von einer Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen! Eine Medikamentengabe in der Schwangerschaft kann auch schwerwiegende Folgen haben. Vor allem Corticosteroide, wie das Cortisol, welches entzündungshemmend wirkt, stehen im Verdacht eine solche Erkrankung auszulösen.

Bei Stress und psychischer Belastung schütter der Körper ebenfalls eigens Cortisol aus, dies ist ebenfalls nicht förderlich für den Fötus. Weitere Faktoren stellen ein zu hohes oder zu niedriges Alter, sowie die falsche Ernährung der Mutter dar, auch Blutungen in der Gebärmutter oder Fieber sind für das Ungeborene gefährlich.

Symptome

Man spricht bei der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte nicht direkt vom Symptomen, die beim Patienten auftreten. Viel eher sind es verschiedene Auswirkungen oder Funktionsstörungen, die durch die Erkrankung entstehen. Diese Störungen betreffen hauptsächlich Nase, Ohren und das Sprachorgan.

Häufig treten Atembeschwerden auf, da die Nasenflügel abgeflacht sein können oder die Nasenscheidewand gekrümmt ist. Die Nahrungsaufnahme ist erschwert, da das Saugen nicht richtig funktioniert. Trinkplatten können jedoch schon einige Tage nach der Geburt für die Kleinsten hergestellt werden, damit dieses Problem umgangen wird.

Vielen Kindern fällt auch das Sprechen schwer, Reibe- und Verschlusslaute sowie Vokale werden dabei verändert ausgesprochen. Ein letzter wichtiger Punkt ist das Problem der Mittelohrbelüftung. Durch eine Gaumenspalte kann diese verändert sein, was zu ständiger Mittelohrentzündung oder einem eingeschränkten Hörvermögen führen kann. Dem kann durch einsetzen eines Röhrchens jedoch vorgebeugt werden. Ist der Oberkiefer von der Spaltbildung betroffen, sind Zahnfehlstellungen möglich. Manchmal sind durch die Lücke einige Zähne gar nicht erst angelegt. Im fortgeschrittenen Alter sind immer wieder Operationen notwendig um die nicht zusammengewachsenen Gesichtsteile miteinander zu verbinden. Häufig leidet darunter auch die Psyche.

Probleme beim Stillen

Da eine Lippen- Kiefer- Gaumenspalte mit einer Verbindung zwischen Mund- und Nasenraum gleichzusetzen ist, entstehen Probleme der Nahrungsaufnahme und der Saugfähigkeit. Wichtig zu wissen ist, dass die Ernährung von Neugeborenen mit Spalten immer bis zu 30 Minuten länger dauert als bei Kindern ohne Spaltbildung, unabhängig davon, ob mit einer Flasche ernährt wird oder gestillt wird.

Ist das Saugen mithilfe einer individuell angefertigten Trinkplatte, die die beiden Räume abtrennt und somit in vielen Fällen die Ernährung erleichtert, nicht möglich, müssen andere Hilfsmittel verwendet werden.

Dabei wird versucht, das Kind, während es an der Brust anliegt, mithilfe einer Spritze zu füttern. Die Milch kann dabei vorab mit einer Pumpe abgepumpt werden. Weiterhin gilt als Variante, dem Baby einen Finger in den Mund zu halten und parallel mit einer Spritze Milch einzuflößen. Diese Variante wird als Fingerfeeding bezeichnet. Weiterhin gibt es verlängerte Flaschen für die Ernährung, wenn das Stillen nicht funktioniert. Diese so genannten Habermannsauger haben ein längeres Mundstück, was den Schluckakt vereinfachen soll. Auch „SpecialNeeds Sauger“ sind hilfreich, die speziell für Kinder entwickelt worden sind, die den Saugreflex durch Erkrankungen und Gendefekte nicht ausüben können. Mit einem Rücklaufventil kann dabei keine Luft in die Flasche eintreten und mit einem Schlitzventil kann dann reguliert werden wieviel Milch in den Mund des Kindes tritt. Eine isolierte Lippenspalte kann beispielsweise einfach mit dem Finger verdeckt werden, damit das Baby an der Brust saugen kann. Natürlich stehen in den ersten Wochen und Monaten auch viele Operationen an, damit alle Störungen schnellstmöglich behoben werden.

In den meisten Fällen sind diese Hilfsmittel allerdings nicht nötig und die Trinkplatte reicht für das Ausüben des richtigen Saugens aus.

Bei Fragen ist eine Rücksprache mit den behandelnden Ärzten, Kieferorthopäden und Hebammen anzuraten.

Therapie

Zur Verbesserung der Nahrungsaufnahme muss dem Kind so früh wie möglich geholfen werden. Wenige Tage nach der Geburt kann eine Trinkplatte individuell angefertigt werden. Sie wird in den Spalt eingesetzt und trennt somit den Nasen- vom Mund- bzw. Rachenraum ab. Durch diese räumliche Trennung kann das Kind besser schlucken und es gewöhnt sich an das Gefühl von normalen anatomischen Verhältnissen. Die Trinkplatte hat stellenweise Aussparungen, um dem Gewebe weiteres Wachstum zu ermöglichen.

Spätestens bis zum 3. Lebensjahr sollte die Lippen-Kiefer-Gaumenspalten durch operative Eingriffe geschlossen sein. Als erste Maßnahme kann der Spalt am Gaumen mit einer Gaumenplatte geschlossen werden.

Zur vollständigen Wiederherstellung normaler anatomischer Verhältnisse sind jedoch mehrere Operationen notwendig. Diese beseitigen neben den funktionellen auch die ästhetischen Defekte.

Für einen frühzeitigen Operationstermin sprechen eine schnelle Normalisierung der Ästhetik und vollständige Funktionswiederherstellung. 

Für einen späten Termin sprechen die Minimierung des Operationsrisikos, sowie der OP-bedingten Wachstumshemmung.

In der Regel sagt man, dass das Baby operationsfähig ist, wenn es 10 Pfund schwer und 10 Wochen alt ist. Nach ungefähr 6 Monaten steht zuerst die Operation von Lippe, Kiefer und dem Naseneingang an. Mit knapp einem Jahr werden harter und weicher Gaumen verschlossen. Weitere Operationen erfolgen im fortgeschrittenen Alter.

Vor allem sprachliche Schwierigkeiten können durch operative Maßnahmen beseitigt werden. Stellungsanomalien der Zähne müssen durch kieferorthopädische Maßnahmen beseitigt werden. Die Anfälligkeit für Karies ist bei diesen Kindern erhöht; sie bedürfen deshalb einer sorgfältigen Mundhygiene.

Sind Sprachstörungen vorhanden, sind logopädische Sprachübungen angezeigt.

Schnuller für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Bei einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte findet die erste Operation recht früh statt. Direkt nach der Operation darf ein Schnuller nicht verwendet werden, da das Risiko besteht, dass durch das Nuckeln die Naht aufplatzen kann. Ansonsten sind Schnuller erlaubt, allerdings ist es nicht leicht, den richtigen Schnuller zu finden. Die einfachen fallen durch die Spalte oft einfach aus dem Mund heraus. Kirschförmige Schnuller mit längerem Stiel sind dabei empfehlenswert, generell sollte aber einfach geschaut werden, welcher Schnuller zu der individuellen Situation des Kindes passen und welchen das Kind akzeptiert.

Beidseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Die beidseitige Lippen- Kiefer- Gaumenspalte ist die schwerste Form des Defekts, bei dem die Patienten zwei isolierte Spalten rechts und links von der Lippenmitte aufweisen, die sich im weichen Gaumen wieder treffen. Diese Variante der Spaltbildung wurde früher als „Wolfsrachen“ bezeichnet.

In mehreren Operationen durch die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie kombiniert mit einem Hals-Nasen-Ohrenarzt, Kieferorthopädie und Logopädie werden die Spalten verschlossen und versucht, den Defekt wiederherzustellen. Die zwei primären Operationen sind dabei der Lippenverschluss und der Gaumenverschluss. Im Laufe des Wachstums kann es dann noch gegebenenfalls zu Kieferspaltosteoplastiken, Nasenkorrekturen und kieferchirurgische Behandlungen kommen.

Daher gilt, dass jeder Fall individuell anders ist und anders geplant wird, abhängig davon, ob eine Spalte vollständig, unvollständig oder isoliert ist. Je ausgeprägter die Form der Spalte, desto länger ist der Therapieweg. Im Fall der doppelseitigen Lippen- Kiefer- Gaumenspalte ist der größte Therapieaufwand notwendig.

Diagnostik

Ultraschall als pränatale Diagnostik

Erste Anzeichen einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte können schon im Ultraschall ersichtlich sein. Gerade moderne Ultraschallgeräte besitzen sehr große Genauigkeit. Ein erfahrener Behandler kann eine Spalte bereits ab der 14. Schwangerschaftswoche erkennen, sofern das Kind bei der Ultraschalluntersuchung günstig liegt. Der Verdacht wird den werdenden Eltern auch sogleich mitgeteilt, damit diese schnellstmöglich über Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden können.

Der Gynäkologe und die Geburtshilfe machen dies schon vor der Geburt. Manchmal wird die Spalte aber auch erst nach der Geburt erkannt. Dies passiert vor allem bei sehr wenig ausgeprägten oder innen liegenden Spalten.

Eine feindiagnostische Untersuchung muss von den Eltern privat gezahlt werden, sie kostet zwischen 200€ und 400€. Eine Überweisung vom Frauenarzt für die Kostenübernahme durch die Krankenkasse kann nur in speziellen Fällen stattfinden - beispielsweise dann, wenn bereits ein Fall von Lippen-Kiefer-Gaumenspalte in der Familie vorliegt. Bei Familien mit mehrfachem Auftreten im Familienstammbaum besteht ein erhöhtes Risiko, dass das Ungeborene ebenfalls diesen Defekt besitzt. Durch die pränatale Ultraschalldiagnostik ist es allerdings nur möglich, die Lippenspalte zu sehen, aber für die Kiefer- und Gaumenspalte müsste das Mundinnere des Fetus inspiziert werden, was vor der Geburt nicht möglich ist.

Wird die Spalte frühzeitig während der Schwangerschaft entdeckt, dann sollten auch andere Organsysteme genau geschallt werden. Die Gefahr, dass eine weitere Fehlbildung besteht, liegt bei ca. 30%.

Vererbung

Das Grundrisiko, mit dem ein Kind an einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erkrankt, liegt bei etwa 0,2%, also 1 Kind von 500 Kindern kommt damit zur Welt. Gehäuft tritt diese Fehlbildung in Familien auf, in denen bereits schon einmal eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aufgetreten ist. Wenn ein Elternteil zu den Geschädigten gehört, beträgt das Risiko für das erste Kind etwa 3%, für das zweite sogar 15-17%. Sind beide Elternteile betroffen, kann man in ca. 35% der Fälle damit rechnen, dass auch die Kinder erkranken.

Tritt die Krankheit zum ersten Mal in der Familie bei dem Kind auf, dann steigt das Risiko auf ca. 4-6%, dass ein weiteres Baby mit dieser Krankheit zur Welt kommt. Wenn zwei Babys so geboren wurden, so steigt das Risiko noch weiter an. Laut mehrerer Studien treten Spalten gehäuft bei Ureinwohnern Australiens oder Amerika auf, Europa liegt im Mittelfeld. In Afrika ist die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte am wenigsten verbreitet. Wie genau der Erbgang verläuft, ist zum jetzigen Zeitpunkt der Forschung noch nicht eindeutig geklärt.

Häufigkeit

Die Häufigkeit des Auftretens einer Art der Lippen-Kiefer-und/oder-Gaumenspalte liegt bei 1:500. Allerdings ist es bis auf die Ausnahme des van der Woude Syndroms kein isolierter Gendefekt. Es ist ein Zusammenspiel multifaktorieller Umwelteinflüsse, allerdings wird noch weitere Forschung betrieben, da teilweise noch immer nicht verstanden wird, warum diese Fehlstellung auftritt.

Die Lippenspalte tritt während der Entwicklung in der 5.-8. Embryonalwoche auf, die Gaumen- und Kieferspalte während der 7.-9. Embryonalwoche. Daher erhöht sich das Risiko für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte durch die äußerliche Einnahme von Medikamenten und Drogen in dem ersten Trimenon (1.-3.Schwangerschaftsmonat).

Dazu zählt primär das Rauchen und Dioxine, die weiterhin als krebserregend gelten und sich in vielen Lebensmitteln verstecken. Darüber hinaus gelten Benzodiazepine, die allgemein als Beruhigungsmittel oder Schlafmittel bekannt sind, als möglichen Faktor für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Dazu zählen Valium, Diazepam oder Oxazepam, auf die gerne zurückgegriffen wird, um zur Ruhe zu kommen. Als weiterer Faktor gelten psychische Erkrankungen der werdenden Mutter und chronisches Hungern wie Essstörungen. Laut neuesten Forschungen gilt ebenfalls eine Rötelerkrankung im ersten Trimenon der Mutter als Ursache für eine Lippen- Kiefer- Gaumenspalte.

Zusammenfassung

Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ist ein bei der embryonalen Gesichtsentwicklung entstandener Defekt. Die Spaltbildung kann unterschiedliche Ausmaße erreichen. Es kommt zu funktionellen und ästhetischen Beschwerden. Die Therapie besteht im Verschluss der Spalten durch mehrere operative Eingriffe, die zur Herstellung normaler Funktion und Ästhetik führen.

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Autor: Dr. Wolfgang Weinert Veröffentlicht: 26.04.2011 - Letzte Änderung: 28.11.2022