Anticholinergika

Definition

Ein Anticholinergikum ist ein Wirkstoff, der auf das parasympathische Nervensystem wirkt. Das parasympathische Nervensystem ist Teil des vegetativen Nervensystems. Es steuert unwillkürlich, also nicht dem Willen unterliegend, die meisten inneren Organe und den Blutkreislauf. Es hat im Stoffwechsel eine bremsende und dämpfende Steuerfunktion, sorgt also für Regeneration, Erholung und Schonung. Der Überträgerstoff (Neurotransmitter) des parasympathischen Nervensystems ist das Acetylcholin. Wird Acetylcholin freigesetzt, wirkt es an verschiedenen Rezeptoren, die wiederum die Information des parasympathischen Nervensystems an die Zelle weiterleiten. Unter dem Begriff ´´Anticholinergika´´ fasst man nun eine Gruppe von Wirkstoffen zusammen, die die Wirkung des Acetylcholins unterdrücken. Diese wirken dabei auf einen bestimmten Rezeptortyp, den muskarinischen Rezeptortyp. Diese Art von Rezeptoren kommt vor allem im Herzen und in glatter Muskulatur, besonders im Verdauungstrakt, vor. Hier führen Anticholinergika dazu, dass Nervenreize unterbrochen werden und wirken damit dem den Stoffwechsel bremsenden und dämpfenden parasympathischen Nervensystem entgegen

Wirkung

Das parasympathische Nervensystem regt die Verdauung an und senkt die Herzfrequenz, Anticholinergika bewirken genau das Gegenteil. Anticholinergika führen zu einer Entspannung der glatten Muskulatur des Verdauungstraktes und damit zu einer Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit. Des weiteren kommt es zu einer Zunahme der Herzfrequenz, was man bei langsamen (bradykarden) Herzrhythmusstörungen ausnutzt. Anticholinergika bewirken eine Unterdrückung der Speichel-, Schweiß- und Magensaftbildung und im Auge eine Erweiterung der Pupille (Mydriasis), was man sich zum Beispiel bei der augenärztlichen Untersuchung des Augenhintergrundes zu Nutze macht. Diese Weitstellung der Pupille vermindert die Sehfähigkeit (besonders in der Nähe) und führt zu starker Lichtempfindlichkeit (Photophobie). Außerdem können Anticholinergika zur Behandlung der Harn- und Dranginkontinenz, bei sehr häufigem Wasserlassen und bei einer überaktiven Blase eingesetzt werden, da sie so entspannend auf die glatte Muskulatur wirken. Dies kommt beispielsweise auch bei nächtlichem Einnässen (Enuresis nocturna) bei Kindern zum Einsatz. Anticholinergika spielen auch eine Rolle bei der Behandlung des Morbus Parkinson zum Einsatz, zum Beispiel werden sie bei einem Parkinson-Patienten gegen Körpersteifheit und Blickstarre eingesetzt.

Atropin und ähnliche Anticholinergika

Der bekannteste Wirkstoff der Anticholinergika ist das Atropin. Atropin ist ein giftiger Wirkstoff, der in Nachtschattengewächsen wie der Engelstrompete, dem Stechapfel und der Schwarzen Tollkirsche (Atropa belladonna) vorkommt. In der Renaissance galten unter europäischen Frauen große Pupillen als besonders schön (´´bella donna´´). Die Verwendung von Tollkirschen-Extrakten in den Augen bewirkte eine bis zu mehreren Tagen anhaltende Pupillenerweiterung. Es wird auch heute noch in der Augenheilkunde verwendet, da bei weiten Pupillen die Untersuchung des Augenhintergrundes erleichtert wird. Die anticholinerge Wirkung des Atropins findet aber auch bei Gallen- oder Harnwegskoliken und bei Magen-Darm-Krämpfen Verwendung. Wichtig ist die anticholinerge Wirkung des Atropins auch bei der Wiederbelebung nach Herz-Kreislauf-Versagen und bei der Behandlung von zu langsamen Herzschlag (Bradykardie) aufgrund seiner frequenzsteigernden Wirkung am Herzen.

Anticholinergika, die in ihrer chemischen Struktur eng verwandt sind mit dem Atropin, wie zum Beispiel Tiotropiumbromid, werden in der Medizin bei chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) eingesetzt, da sie die Bronchien erweitern. Auch gegen Reiseübelkeit setzt man ein dem Atropin verwandtes Medikament ein, so unterdrückt zum Beispiel ein Scopolamin-Pflaster den Brechreiz. Gegen übermäßiges Schwitzen (Hyperhidrose) kann man wegen der hemmenden Wirkung auf die Schweißproduktion ebenfalls Atropin einsetzen.

Unerwünschte Wirkung

Anticholinergika führen sehr häufig zu Mundtrockenheit, da die Speichelproduktion gehemmt wird. Außerdem gehören zu den häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen Verstopfung, Müdigkeit, Sehstörungen und Harnverhaltung. Bereits in geringen Dosen spielen die Wirkungen der Anticholinergika auf das Herz-Kreislaufsystem eine Rolle, zum Beispiel kann es zu ´´Herzrasen´´ (Tachykardie) kommen.

Anticholinerges Syndrom

Werden Anticholinergika in sehr hohen Dosen verabreicht, können Vergiftungssymptome auftreten, die man unter dem Begriff des anticholinergen Syndroms zusammenfasst. Dies bezeichnet einen Zustand, bei dem das parasympathische Nervensystem weitgehend ausgeschaltet wurde. Symptome des anticholingergen Syndroms können Schlafstörungen, Krampfanfälle, Gedächtnisstörungen und Herzrhythmusstörungen, weite Pupillen, Anstieg des Augeninnendruckes (Glaukomanfall), trockene, heiße Haut, Darm- und Harnverhaltung sein. Patienten mit so starken Nebenwirkungen auf Anticholinergika müssen auf einer Intensivstation überwacht werden. Ein mögliches Gegenmittel ist der Wirkstoff Physiostigmin, der die Wirkung der Anticholinergika aufhebt. Die Erste Hilfe bei einer Atropinvergiftung besteht in der sofortigen Gabe von Aktivkohle, die die Aufnahme des Atropins in den Blutkreislauf im Magen-Darm-Trakt verhindert. Außerdem kann eine künstliche Beatmung notwendig sein, da ab sehr hohen Dosen von Anticholinergika eine tödliche Atemlähmung einsetzen kann. Bei Kindern kann dies schon bei geringeren Dosen eintreten.

Weitere Informationen zum Thema

Autor: Dr. Nicolas Gumpert Veröffentlicht: 19.05.2014 - Letzte Änderung: 22.10.2021