Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis - was ist das?

Viele Menschen leiden vor allem durch Wirbelsäulenerkrankungen unter chronischen Schmerzen (siehe: Wirbelsäulenerkrankungen Symptome). Im Rahmen dieser chronischen Schmerzen kann es zur Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses kommen. Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn die Schmerzen seit wenigstens sechs Monaten vorhanden sind. Sie beeinträchtigen den Patienten nicht nur körperlich, sondern vor allem auch psychisch. In Deutschland leiden zwischen etwa zehn Prozent aller Menschen an chronischen Schmerzen.

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Wie entsteht ein Schmerzgedächtnis?

Ein Schmerzgedächtnis kann entstehen, wenn Schmerzen über einen langen Zeitraum hinweg bestehen und nicht oder nur inadäquat behandelt werden. Normalerweise besitzt Schmerz eine Warnfunktion. Er macht uns darauf aufmerksam, dass unser Körper etwas schädlichem ausgesetzt ist. Einfaches Beispiel ist die heiße Herdplatte, die praktisch sofort zu kurzzeitigen Schmerzen führt, sodass man seine Hand sofort wieder weg zieht. Ist ein Schmerzgedächtnis entstanden, hat der Schmerz seine eigentliche Funktion verloren, ihm liegt auch meist keine Ursache mehr zu Grunde.

Kommt es zu einem längeren Schmerzereignis, werden Nervenbahnen ständig gereizt, was zur Folge hat, dass es praktisch zu einer Verselbstständigung des Schmerzes kommt. Ist man einem Schmerz in regelmäßigen Zeitabständen ausgesetzt, so wird dieser immer stärker wahrgenommen, obwohl er in der Intensität eigentlich genauso stark wie der vorangegangene Schmerz sein müsste. Es kommt zu einer Potenzierung des Schmerzes (Langzeitpotenzierung - mehr dazu unter Limbische System - Hippocampus). Man spricht fachsprachlich von einer Hyperalgesie (übermäßige Schmerzwahrnehmung), die durch die Langzeitpotenzierung entsteht. Selbst Berührungen können dann unter Umständen Schmerzen auslösen.

Wird dieser Prozess immer und immer wieder wiederholt, ist irgendwann gar kein Schmerzereignis/Schmerzreiz mehr nötig, damit die Nervenzelle ein Signal aussendet und so ein Schmerzempfinden auslöst. Man nennt diese Zelle dann spontanaktiv. In diesem Fall muss also gar keine Erkrankung zum Beispiel im Rücken vorhanden sein, die den Schmerz provoziert, sondern die Nervenzellen sind einfach an eine permanente Aktivierung gewöhnt.

Langfristig kann es sogar dazu kommen, dass es auch auf Genebene zu Veränderungen kommt. Diese führen denn zu einer veränderten Zellmembran, was dazu führt, dass die betroffenen Nervenzellen schneller angesteuert werden können und es folglich zu einem stärkeren Schmerzerlebnis kommt. Die ablaufende Vorgänge ähneln dabei den Prozessen, die beim Lernen stattfinden.
Mittels Lokalanästhetika oder Schmerzmitteln kann man in der Regel diese sogenannte Langzeitpotenzierung, sprich die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses, verhindern. Mithilfe einer Allgemeinnarkose oder Beruhigungsmitteln ist dies allerdings nicht möglich, da beide nicht auf Rückenmarksebene wirken.

Normalerweise besitzt unser Körper einen eingebauten Schutzmechanismus gegen zu starke Schmerzen, die auch der Entstehung eines Schmerzgedächtnisses vorbeugen sollen. Im Rückenmark können körpereigene Schmerzmittel (Opioide) oder hemmende Aminosäuren ausgeschüttet werden, die die schmerzvermittelnden Nervenzellen hemmen. Diese Mechanismen sind ständig aktiv, werden aber nochmal in besonderen Maßen unter Stress oder, wenn mehrere Schmerzreize vorhanden sind, aktiviert.

Ist dieses System unzureichend ausgebildet, ist man empfindlicher gegenüber Schmerzen und es kommt leichter zur Entstehung eines Schmerzgedächtnisses. Diese individuell ausgeprägten Hemmmechanismen bedingen, dass manche Menschen empfindlicher auf Schmerzen reagieren als andere und es bei machen Menschen auch leichter zur Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses kommt.

Wie kann man Schmerzen löschen/ausschalten?

Bisher wurden noch keine Möglichkeiten entdeckt, wie man das Schmerzgedächtnis mithilfe von Medikamenten wieder löschen kann. Linderung verschaffen hingegen häufig Methoden wie eine transkutane elektrische Nervenstimulation, bei der sensible Nervenfasern angesteuert werden, eine Akupunkturbehandlung, Wärme- oder Kältetherapie.

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Diese Verfahren zählen zu den sogenannten Gegenirritationsverfahren. Sie sind häufig in der Lage den Schmerz über die Anwendung hinaus für Stunden bis hin zu Tagen zu hemmen. Typischerweise lässt sich dadurch aber nur über einen begrenzten Zeitraum hinweg eine Schmerzfreiheit beziehungsweise Besserung des Schmerzes erzielen. Die Forschung versucht natürlich das Problem des Schmerzgedächtnisses großräumiger in den Griff zu bekommen und verfolgt momentan vielversprechende Ansätze.

Hypnosetherapie

Auch eine Hypnosetherapie kommt manchmal bei chronischen Schmerzpatienten zum Einsatz. Man bezeichnet sie als Hypnotherapie. Durch Hypnose verändert sich oft merkbar die Schmerzverarbeitung. Meist greifen Patienten auf eine Hypnosetherapie zurück, bei denen schon alle anderen Methoden fehlgeschlagen sind. Der Patient wird dafür vom behandelnden Therapeuten in einen hypnotischen Zustand versetzt. Einem Zustand, in dem alle Störfaktoren von außen ausgeblendet werden.

Vom Therapeuten werden während dieser Phase dem Patienten Bilder eingegeben, die vom Schmerz ablenken sollen und eine innere Ruhe erwirken sollen. Dadurch kann letztlich erwirkt werden, dass der Schmerz anders wahrgenommen werden kann. Allerdings sollte man nicht mit zu großen Erwartungen in die Therapie gehen. Die Hypnose schlägt zwar bei vielen Patienten gut an, aber eine gänzliche Schmerzfreiheit kann mit der Hypnose nicht erreicht werden. Die Schmerzen werden häufig gelindert oder über einen begrenzten Zeitraum behoben. Natürlich sollte einem auch klar sein, dass die Hypnosetherapie nicht bei allen Patienten anschlägt.

Eine andere Methode, die der Hypnotherapie vom Prinzip her nah kommt, indem sie auch die Schmerzwahrnehmung verändert, ist die relativ neue Methode des „Relearning“. Der Patient soll dafür eine Schmerzmedikation einnehmen und sich bewusst den Bewegungen/Handlungen aussetzen, die normalerweise einen starken Schmerz hervor rufen. Der erwartete Schmerz bleibt in dieser Situation aus. Durch diese Methode soll versucht werden, das Schmerzgedächtnis durch positive Erlebnisse zu überschreiben. Wenn man dies häufig wiederholt, kann man möglicherweise dem Schmerzgedächtnis entgegenwirken.

Kopfschmerzen

Kopfschmerzen stellen auch eine häufige Lokalisation für chronische Schmerzen dar, die im Rahmen der Entstehung eines Schmerzgedächtnis praktisch permanent vorhanden sind. Besonders Migränepatienten bekommen dies teilweise zu spüren.

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Zahnschmerzen

Chronische Schmerzen kommen nicht nur an typischen Orten, wie dem Rücken vor, sondern auch die Zähne können davon befallen sein. Bei manchen Patienten kommt es zu psychosomatischen Zahnschmerzen. In diesem Fall liegt die Ursache nicht am Zahn oder Zahnfleisch selbst, sondern die Psyche des Patienten führt zu diesen Schmerzen. Natürlich ist es eine Herausforderung für den behandelnden Zahnarzt diese Tatsache erstmal zu erkennen.

Von einem psychosomatischen Schmerz spricht man auch, wenn sich durch eine vorangegegangene Zahnbehandlung ein Schmerzgedächtnis ausgebildet hat, obwohl die eigentlich zu Grunde liegende Ursache für den Schmerz gar nicht mehr vorhanden ist. Ist eine Person starkem Stress oder einer starken psychischen Belastung ausgesetzt, leidet auch das Immunsystem darunter. Man braucht in dem Falle mehr Zeit, um sich von einer Erkrankung zu erholen, was unter Umständen dazu führen kann, dass sich ein Schmerzgedächtnis ausbildet.

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Schmerzmittel

Hat sich erst mal ein Schmerzgedächtnis ausgebildet, sodass der Patient unter chronischen Schmerzen leidet, ist es sehr schwer diese Schmerzen medikamentös mittels Schmerzmitteln zu behandeln. Bei bis zu 50% dieser Patient kann keine adäquate Schmerzbehandlung erfolgen.

Bei der Therapie kommen nicht nur Schmerzmittel zur Anwendung, sondern auch Therapien wie Physiotherapie, Psychotherapie und physikalische Therapie (z.B. Kälte- oder Wärmetherapie).

Als Medikamente werden Standardschmerzmittel wie Paracetamol oder Ibuprofen eingesetzt, aber auch stark wirksame Opioide wie Codein und Morphin. Neben Schmerzmitteln werden meist gleichzeitig noch antientzündliche Medikamente eingesetzt, da unter Entzündungen Stoffe gebildet werden, die den Schmerz vermitteln/verstärken.

Hilft die orale Einnahme von Schmerzmitteln nicht, den Schmerz zu lindern, können Schmerzmedikamente auch direkt über eine Infusion ins Rückenmark eingebracht werden (= intrathekale Arzneimittelinfusion).

Alternativ kann auch eine Neurostimulation durchgeführt werden, bei der über Stromimpulse die Signalweiterleitung von überaktiven Nerven gehemmt werden soll.

Den letzten Ausweg stellt dann eine Operation dar, mittels derer Nerven blockiert werden, sodass diese keine Schmerzreize mehr an das Gehirn weiterleiten können. Diese Methode kann aber nur dann durchgeführt werden, wenn die Ursache der Schmerzen lokalisierbar ist.

Prävention

Früher ist man davon ausgegangen, dass mit der Zeit vorübergehende Schmerzen dem Patienten nicht schaden. Mittlerweile gilt eher, dass man längere Schmerzen nicht ertragen muss, da man durch die Linderung der Schmerzen mithilfe eines Schmerzmittels, auch der Entstehung eines Schmerzgedächtnisses vorbeugt.

Zur Prävention eignen sich schwache Schmerzmittel wie Paracetamol, aber auch stark potente Schmerzmittel, wie Opioide, zu denen auch das bekannte Schmerzmittel Morphin zählt. Eine Prävention kann allerdings nur vorgenommen werden, wenn ein kommendes Schmerzereignis erwartet wird. Denn meist gehen die Patienten erst zum Arzt, wenn der Schmerz bereits chronisch vorhanden ist und sich somit ein Schmerzgedächtnis bereits ausgebildet hat. In diesem Fall kann keine Prävention mehr vorgenommen werden.

Das Schmerzgedächtnis entsteht durch eine sogenannte synaptische Langzeitpotenzierung, wodurch es zu einer Sensibilisierung gegenüber von Schmerzen kommt. Bei der Schmerzentstehung kommt es zu einem Einstrom von Calcium in schmerzvermittelnde Nervenzellen. Dieser Einstrom wird durch Glutamatrezeptoren (Subtyp NMDA) vermittelt.

An dieser Stelle können verschieden Präventionsmöglichkeiten ansetzen. Zum einen kann man die Glutamatfreisetzung der schmerzvermittelnden Fasern, fachsprachlich als nozizeptive Fasern bezeichnet, verringern oder ganz unterbinden. Dafür kann man im Rückenmark verschiedene Anästhesietechniken anwenden, dazu zähen die Infiltrations, Leitungs- und Plexusanästhesie. Zum anderen kann man den sogenannten NMDA-Rezeptor (=Glutamat-Rezeptor) medikamentös blockieren. Dafür eignen sich zum Beispiel Ketamin oder Memantine.

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Autor: Dr. Nicolas Gumpert Veröffentlicht: 22.07.2016 - Letzte Änderung: 06.11.2021